2010-11-06

Parallelwelten

Im Nachbarort findet an diesem Wochenende ein "Forum Gesundheit" statt. Die Stadthalle ist - wie bei Veranstaltungen dieser Art wahrscheinlich üblich - in einer der Etagen mit Infoständen der unterschiedlichsten Anbieter im Gesundheitsmarkt bestückt, während in einer anderen Etage in ihren kleineren Tagungsräumen Fachvorträge gehalten werden.

So referieren Chefärzte der Hochtaunus-Klinik dort über ihre jeweiligen Fachgebiete und geben praktische Lebenshilfen. Auf meine Frage, wie man seine Dienste möglichst vermeiden kann, antwortete so beispielsweise Dr. Hansen (Chefarzt der Orthopädie und Unfallchirurgie) im Frage- & Antwort-Teil seines Vortrags über Geriatrisch-traumatologische Patientenversorgung: "1. Beseitigen Sie Stolperfallen in Ihrer Wohnung. 2. Machen Sie Ihre Nasszellen und glatte Steinböden rutschfest. 3. Räumen Sie Ihre Wohnung so um, dass häufiger benötigte Gegenstände leichter erreichbar sind." Der Tenor seines Vortrags: Die Menschen werden immer älter und bleiben im Alter zunehmend beweglich. Andererseits altert der Körper, jede zweite Frau leidet während ihres Lebens an Osteoporose und das Sturz- und Frakturrisiko nimmt zu. Aber so eine Fraktur ist kein Beinbruch mehr [blödes Wortspiel]: Die Fortschritte in der medizinischen Versorgung haben die perioperative Letalitätsrate (operationsnahe Sterberate) nach einem Oberschenkelhalsbruch innerhalb weniger Jahrzehnte von ca. 35% (1970) auf ca. 7% (2008) senken lassen.

Dr. Höer (Chefarzt Allgemein- und Viszeralmedizin) stellte in seinem Referat über Minimal-invasive Kolon- und Rektum-Chirurgie die enormen Fortschritte vor, die insbesondere im Bereich der "Schlüssellochchirurgie" erlangt wurden. So sinkt beispielsweise der Anteil der Colonkarzinom-Patienten, die nach einer Operation dauerhaft mit einem künstlichen Darmausgang leben müssen, nahezu von Jahr zu Jahr und liegt derzeit deutlich unter 10%.

Wie ärmlich kommen mir neben diesen Berichten über die imposanten und belegbaren Erfolgen der medizinischen Forschung dagegen die "Fachvorträge" mancher Quacksalber vor. "Spirituelle Medizin - energetische Heilung als Ergänzung zur Schulmedizin", "Osteopathie als Teil eines ganzheitlichen Behandlungskonzepts" oder "Reharmony - Bach-Blüten-Harmonisierung nach Reaktionstyp" lauten einige der Titel der Vorträge, in denen auch nicht ein Fitzelchen Fortschritt in der Vergangenheit zu verkünden war. All diesen Pseudo-Therapien ist gemein, dass sie einen wissenschaftlichen Wirksamkeitsbnachweis seit Jahrzehnten schuldig geblieben sind, aber - sorry, der Zusammensetzung der Zuhörerschaft nach zu schließen - insbesondere bei Frauen gut anzukommen scheinen.

Diese zwei Parallelwelten, dieses Nebeneinander von evidenzbasierter Medizin, die nachweisbar dem Patienten hilft, und der Hokuspokus-Pseudomedizin, die nachweisbar nur dem Therapeuten hilft, unter einem gemeinsamen Dach des "Forum Gesundheit" vorzufinden empfinde ich schon als etwas befremdlich.

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